Thoughts
Datum: 11.02.2022
Autor: Sophia
Position: Golf von Mexiko
Nautische Position: 22°46.5’ N 084°24.0’ W
Zurückgelegte Seemeilen: 8871
Schiff: Pelican of London


Kein Bock
Als ich mit diesem Tagesbericht begonnen habe, hatte ich absolut keine Lust darauf. Bekanntlich zeigt sich das dann auch am Ergebnis: Wenn das Schreiben dem/der Autor*in keinen Spaß macht, dann wird der Text auch nicht gut.
Dementsprechend war ich sehr glücklich, als ich dann später beim Aufwaschen (für Nate: Abwaschen) den Einfall hatte, dass ich doch gar nicht über einen recht typischen Seetag schreiben muss, sondern aus dem Tagesbericht etwas anderes machen kann: Ich versuche, die wichtigsten Dinge, die mir durch diese fantastische Reise auf der Pelican of London vor Augen geführt wurden, aufzuschreiben.
Ich finde, in den letzten vier Monaten haben wir hier alle viel gelernt und diese Erkenntnisse sind durchaus interessanter für alle, die diesen Bericht lesen, als die Tatsache, dass wir heute in Biologie einen Test geschrieben haben.


Privileg
Ich glaube, die größte Sache, die mir auf dieser Reise klar geworden ist, ist, wie privilegiert wir in Deutschland sind und darüber hinaus auch, wie viel Glück wir haben, in der Lage zu sein, diese Reise zu machen, bzw. sie uns leisten zu können. Wenn ich daran denke, dass viele der Einheimischen auf den karibischen Inseln niemals die Möglichkeit haben werden, ihre Insel zu verlassen und wissen, dass da noch so viel draußen ist und sie einfach nicht wegkommen, wird mir ganz komisch.
Auf Antigua war diese Spaltung der Gesellschaft besonders ausgeprägt: Zum einen gab es den Hafen, voller Superyachten und Luxusschiffen (und der Pelican, die daneben etwas heruntergekommen aussah) und direkt daneben einen Stand, an dem ein Mann Kokosnüsse zum Überleben verkaufte. Wie sich das gelohnt haben kann, verstehe ich nicht, bei den Preisen auf der Karibikinsel…



Wege
Ich habe letztens Tagebuch geschrieben und mir ist aufgefallen, dass die beschriebenen Seiten die Vergangenheit symbolisieren und die unbeschriebenen die Zukunft. In dem Moment habe ich mich dann gefragt, was denn die Gegenwart in dem Tagebuch ist.
Der Stift, der sich über das Blatt bewegt? Man könnte sagen, die Gegenwart ist die Grenze zwischen der Vergangenheit und der Zukunft, hat aber keine Substanz an sich, sondern wird nur durch uns geleitet. So kann man das Tagebuch auf die Realität übertragen: Wir haben vergangene Erfahrungen und Erfahrungen, die wir noch machen werden, also die beschriebenen und unbeschrieben Seiten.
Aber welche Worte auf dem jetzt noch weißen Papier stehen werden, hängt ganz von uns und unseren Taten in diesem Moment ab. In unserem Leben müssen wir uns immer wieder, jede Sekunde, an einer Abzweigung für den einen oder den anderen Weg entscheiden. Einige dieser Wege führen wieder zusammen, andere wiederum spalten sich und man gelangt nie wieder zurück. Es geht immer nur weiter vorwärts, niemals zurück.
Auf seinem Lebensweg trifft man auch oft andere, beeinflusst sie in ihren Entscheidungen und begleitet sie ein Stück. Im Endeffekt muss aber jede Person ihren eigenen Weg gehen und eigene Erfahrungen sammeln.


Uns wird es nach Ocean College ähnlich ergehen: Den Lebensabschnitt dieser Reise durchleben wir alle zusammen und wenn wir dann in Amsterdam unsere Familien wiedersehen und nach Hause zurückkehren, spalten sich unsere Wege und einige von uns werden sich vermutlich auch nie wieder sehen. Ich zumindest werde aber auf jeden Fall in Kontakt mit meinen Freunden von der Reise bleiben, und sie werden den Verlauf meines Lebens erheblich beeinflusst haben.
Prioritäten
Eine weitere Sache, deren Beherrschung ich auf dieser Reise nähergekommen bin, ist Prioritäten in den Dingen zu setzen, die ich tue. Ich habe ein besseres Bild davon, was mir wichtig ist und was weniger. Ich setze mittlerweile eher darauf, Erfahrungen zu sammeln, zu denen ich nie wieder die Möglichkeit bekommen werde, als Erwartungen zu erfüllen, hinter denen ich nicht stehe.
Wenn es jemandem schlecht geht und ich eigentlich dringend etwas für die Schule vorbereiten müsste, weil ich in einer Stunde einen Vortrag halten muss, für den ich noch nichts getan habe, dann ist mir das in dem Moment egal, da das Bedürfnis, dieser Person zu helfen, die Aussicht einer schlechten Note überwiegt.
Ein anderes Beispiel wäre auch, dass ich auf Shore Leave eher dazu tendiere, verrückte Dinge zu tun, bei denen ich vielleicht nicht ganz weiß, wie ich z.B. von dem Ort wieder zurückkomme, zu dem ich mit einem Taxi gefahren bin, wo ich dann aber lieber den ganzen Weg zurück zum Treffpunkt renne als die Möglichkeit verpasst zu haben, etwas Außergewöhnliches zu erleben.


Ich muss zugeben: Prioritäten zu setzen und Entscheidungen zu fällen ist weiterhin nicht meine größte Stärke. Aber mir hat dieses Abenteuer geholfen, mich grob zu orientieren in dem, worauf ich in meinem Leben eher den Fokus setzen möchte und dafür bin ich sehr dankbar.
Ich bin gespannt, was die letzten zwei Monate der Reise noch bringen werden und was für ein Mensch ich sein werde, wenn wir am neunten April in Amsterdam in den Hafen einlaufen und das „normale Leben“ weitergeht wie vorher… oder auch nicht wie vorher.

Grüße:
Lea: Happy Birthday Papa! Hab‘ dich lieb!
Sophia: Greetings to all the Berliners, Bernsbachers, Upper Arlingtoners, Clevelanders and anyone else reading this!