Ocean College

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Letzter Tagesbericht

Datum: 31.3.2021
Autor: Karun
Ort: Ankern vor England, Torquay

Krass, jetzt schreibe ich also meinen letzten Tagesbericht an Bord der Pelican. Es ist ziemlich traurig, dass wir schon einen Monat vor unserer Ankunft in Deutschland anfangen konnten zu sagen, dass wir das letzte Mal Shorleave bekommen, dass wir das letzte Mal Briefe von unseren Liebsten bekommen werden, dass wir die letzten frei lebenden Delfine sehen, dass wir das letzte Mal auf den Mast klettern dürfen, dass wir das letzte Mal gemeinsam Shantys singen und dass wir das letzte Mal auf die Pelican gehen und nach dem nächsten Verlassen vielleicht nie wieder auf sie zurückkommen werden. Jetzt sind es noch 10 Tage. Nur noch 10 Tage.

Karun auf Madeira

Kranker Scheiß, das ist nichts! Wo ist die ganze Zeit hin? Wo sind die letzten vergangen Monate hin? Irgendwie vergeht die Zeit ziemlich schnell, aber zugleich dauert es auch noch eine Ewigkeit, bis wir wieder in Deutschland sind. Jeder Tag ist wie eine ganze Woche, da so viel passiert. Wenn man dann auf die ganze vergangene letzte Woche zurück schaut, ist diese so schnell verflogen, als hätte jemand die Zeit vorgedreht. Die letzten 10 Tage sind zugleich aufregend wegen der Handovers aber auch irgendwie erdrückend wegen der immer mehr aufkommenden Aufbruchstimmung.

Karun im Rigg

Diese wird Tag für Tag stärker, da wir jetzt unsere letzten Feedbackgespräche haben, anfangen, das Bordbuch zu gestalten, das wir am Ende zugeschickt bekommen. Jetzt werden auch unsere Abschlusspullis entworfen und wenn wir jetzt täglich in den Messroom gehen, sehen wir Briefumschläge aufgereiht an den Wänden, in die wir unsere Abschiedsbriefe für jeden an Bord stecken können. Jeden Tag sieht man, wie sich diese immer und immer mehr füllen. Viele von uns können es kaum erwarten,  zurückzukehren und dort ihren normalen Alltag weiterzuleben. Die Frage ist, inwiefern wird der Alltag normal sein? Gibt es normal überhaupt? Für uns war Corona im letzten halben Jahr so fern. Wir hatten einige Freiheiten hier, von denen unsere Freunde und Familien nur träumen konnten. Wir konnten alle zusammen wunderschöne sechs Monate verbringen ohne Masken tragen zu müssen. Wir durften uns umarmen, miteinander kuscheln und als eine große Familie gemeinsam Weinachten feiern. Ich habe irgendwie Respekt vor Zuhause, weil ich nicht weiß, wie ich meiner Familie und meinen Freunden erzählen soll, wie es hier war.

Karun beim Sezieren

Ich weiß nicht, ob ich erklären kann, wie es ist, mitten in der Nacht aufzustehen, um auf Watch zu gehen, wie es sich anfühlt, auf den Yards zu stehen und die Aussicht zu genießen, am Steuer zu stehen und die Kontrolle über das ganze Schiff zu haben. Ich glaube, um das richtig verstehen zu können, muss man diese Gefühle gespürt haben oder in der Situation gewesen sein. Also: Wenn man mich fragt, ob ich Ocean College weiter empfehle, auf jeden Fall! Hier kann man so viel lernen, über andere und vor allem über sich selbst. Wenn man hier war, weiß man, was Zusammenhalt, Teamwork und Spaß wirklich ist! In einem halben Jahr wird man mit komplett random zusammengewürfelten Personen zu einer Familie. Eine riesige Familie! Mit dieser Familie kannst du zusammen über die Reling kotzen, über Toilettenblokaden reden und zusammen durch alles gehen. Es gibt keinen, der ausgeschlossen ist oder der gemobbt wird. Jeder hat sich auf der Reise verändert und jeder wurde trotzdem so akzeptiert, wie er war.

Karun beim Matheunterricht

Wie habe ich mich verändert? Wie haben wir alle uns hier verändert und wie haben sich unsere Familien zuhause verändert? Nichts ist mehr, wie es war! Uns ist bewusst, wie gut wir es Zuhause haben und was wir alles vermissen. In diesen sechs Monaten ist uns bewusst geworden, welche Personen wir aus ganzen Herzen lieben und nicht verlieren wollen. In den Telefonaten kam mir Deutschland und all die Probleme und Geschichten von zuhause so fern vor. Jetzt, da wir Deutschland Tag für Tag näher kommen, realisiere ich, wo ich hinkommen werde. Heute haben wir die aktuelle Tagesschau geschaut und es hat sich nichts geändert.

Karun und Sophia

Das einzige Thema war Corona, als wären wir nie weg gewesen. Werden wir, wenn wir wieder nach Deutschland kommen, wie gewohnt in alles reinfinden können oder wird der Einstieg in den Alltag schwierig? Habe ich mich während der Reise so stark geändert dass ich nicht mehr zu meinen Freunden passe? Haben sich meine Interessen und Ansichten so geändert, dass ich nicht mehr so leben will, wie ich es vor Ocean College getan habe? Werde ich meine ganzen Hobbys weiterführen oder werde ich mir mehr Freiheit gönnen?

Nach wie vielen Tagen habe ich Deutschland wieder satt und will zurück zur Pelican? Wie lange, bis ich die vielen unterschiedlichen Menschen um mich herum vermisse? Jeden einzelnen mit seinen Eigenheiten und Talenten? Wie lange dauert es, bis ich den Wind und die Wellen vermissen werde? Komme ich zuhause mit allem wieder klar? Wie gehe ich mit dem Luxus Zuhause um? Was ist Luxus für mich in diesem halben Jahr geworden? Bevor ich zu Ocean College aufgebrochen bin, dachte ich, dass es Luxus ist, viel Geld zu haben, schnelle Autos zu fahren, teures Essen zu essen, neueste Mode, Gold und Silber, Diamantenschmuck, große Häuser oder Villen zu besitzen.

Schülergruppe im Urwald

Hier bei Ocean College ist mir klar geworden, dass Luxus so viel mehr als das ist! Luxus ist, wenn ich fließendes Wasser aus dem Wasserhahn habe, das nicht nach Chlor schmeckt; jeden Tag Süßwasser zum Duschen habe; mir einfach Obst nehmen können, wann ich will und so viel ich will und wenn kein Obst da ist, einfach schnell zum nächsten Supermarkt um die Ecke gehen zu können und mir etwas zu kaufen; eine Auswahl an Kleidung oder Lebensmitteln zu haben; die Freiheit, Sport zu machen, ohne dass ich bei jeder Übung umkippe wegen dem beschissenen Wellengang; wenn das Trinken nicht aus der Tasse läuft, weil irgendein Dulli mal wieder nicht auf dem richtigen Kurs steuert; gleiches Besteck zum Essen zu haben; einfach ein Fenster öffnen zu können und dem Zwitschern der Vögel zu lauschen; gutes Internet zu haben, um elektronische Geräte benutzen zu können; mal einen Spaziergang in der Natur machen zu können und nicht auf der Pelican eingeschränkt zu sein. Eigentlich ziemlich beeindruckend und verrückt, was Luxus alles sein kann.

Schülergruppe auf Kaffeefarm

Und das war ja noch lange nicht alles! Hoffentlich werde ich das nicht vergessen! Hier in diesem Punkt zum Beispiel merke ich schon, dass ich mich verändert habe. In nur sechs Monaten kann man so viel lernen und sich auch verändern. In diesem halben Jahr sind wir, ein komplett verrückter, zusammengewürfelter Haufen, eine Familie geworden. Wir haben die anderen in schwierigen Phasen begleitet und haben uns in den schwierigsten Situationen beigestanden. Als ein Team haben wir uns weiterentwickelt und haben unsere Ängste bezwungen. Und gemeinsam haben wir es geschaft, als Familie alles zu bezwingen und hunderte Höhepunkte zu erleben. Miteinander haben wir geweint, gelacht und gesungen. In sechs Monaten haben wir gelernt, miteinander zu leben und einander zu lieben! Ich persönlich habe eine komplette Wendung gemacht und bin genau wie alle anderen ein anderer Mensch geworden. Zumindest in einigen Dingen. Und nun arbeitet alles, wirklich alles auf unsere Ankunft in Emden hin. Der große Abschied steht kurz bevor. Mal sehen was er so bringt.

Schülergruppe im Saloon

In diesem Text steckt ein Teil meines Herzens und ich hoffe, dass man wenigstens ein wenig versteht, wie ich mich gerade fühle und was ich alles in sechs unglaublichen Monaten erlebt habe. Aber irgendwie kann man das dann doch alles nicht ganz so genau beschreiben, sonder nur fühlen!

Und jetzt zum allerletzten mal Mama, Papa, Anita, Nike. Ich habe euch so so dolle lieb und vermisse euch so sehr. Aber hey, es sind nur noch 10 Tage. Das ist absolut nichts! Die Tage könnt ihr sogar an zwei Händen abzählen! Kuss Kuss Kuss und eine ganz feste Umarmung!!!

Da dieser Text am Ende in euren Bordbüchern steht, ihr Matrosen, wollte ich mich bei euch allen bedanken. Verrückt, dass ich ein ganzes halbes Jahr mit euch verbringen durfte trotz Corona. Ihr seid nicht wie eine Klasse sondern wie eine crazy Familie für mich geworden und hätte mit keinen anderen dieses halbe Jahr lieber verbracht! Und wenn ihr jetzt eure Bordbücher anschaut, ruft mich gerne mal an oder schreibt eine Nachricht. Nicht vergessen, man sieht sich immer zweimal im Leben!!!

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